gebraucht; gut - Besitzervermerk auf dem Titelbatt. - Der Herausgeber, Erich Schmidt (1853 - 1913), hatte Literaturwissenschaft studiert, war erst in Straßburg als außerordentlicher, dann (1880) in Wien als ordentlicher Professor berufen worden und ging von dort 1885 als Direktor des neu-gegründeten Goethe-Archivs nach Weimar. Nach dem Tod des Dichter-Enkels, Walther Wolfgang Freiherr von Goethe (geb. 1818), war dort das Erbe des Großvaters – Goethes Wohnhaus in Weimar, seine Bibliothek und die umfangreichen Sammlungen – dem Staat Sachsen-Weimar-Eisenach zugefallen. Großherzogin Sophie von Sachsen-Weimar-Eisenach sicherte die Gründung des Archivs in ihrem Schloß und veranlaßte den Bau eines Archivgebäudes (Fertigstellung: 1892). In seiner Einleitung zum 'Urfaust' berichtet Schmidt über seinen turbulenten Einstand: ein pensionierter preußischer Minister (Gustav Loeper, 1822 -1891) sicherte und lieferte einen "Platzregen ... (von) Mittheilungen über den Inhalt des endlich erschlosssenen Goethearchivs". Aber Loeper machte auch Verlustmeldungen: so war "der Urfaust, das Originalmanuskript des ersten Theils in seiner ursprünglichen fragmentarischen Gestalt...nicht mehr vorhanden". Bei einer zweiten Suche in "dem wirren Bibliothekraum des Goethehauses" brachte der Direktor der Großherzoglichen Kunstsammlungen und Museen in Weimar, Carl Ruland, zwar einen "gewaltige(n) Korb voll Handschriften" zum Vorschein: "schwer zu entziffernde Bleistiftskizzen von Gedichten, Briefen und Aufsätzen, massenhafte Blätter zu den 'Wanderjahren' und in dem Wust auch viel Faustisches aus der Mitte der zwanziger Jahre". Aber mehr auch nicht. Dabei war "nichts ... ungestümer begehrt, nichts im hypothesenreichen Aufbau der Faustforschung schmerzlicher vermißt worden als jener in der 'Italiänischen Reise' noch vorhanden geschilderte 'alte Codex'". Wenig später machte der Archivdirektor eine Dienstreise nach Dresden: "ein Mitglied der Familie Einsiedel" hatte gemeldet, daß der Großneffe "des berühmten Hoffräuleins Luise von Göchhausen" aus dem Nachlaß seiner Großtante Papiere weiterzugeben habe. Und in diesen Blättern stieß Schmidt 1887 auf eine "Copie ... einer sehr schreiblustigen und schreibgewandten Hofdame": "hier war ... der Urfaust in einer sauberen Abschrift erhalten". Den Fund datierte Schmidt in seiner Einleitung auf "Neujahr 1887". Und dann muß alles sehr schnell gegangen sein: unsere erste Ausgabe von "Goethes Faust in ursprünglicher Gestalt" wurde vom Verlag noch im Jahr 1887 gedruckt. Vorausgegangen waren: Schmidts Rückkehr nach Weimar, eine philologische Prüfung der Abschrift auf Authentizität, eine Urteilssicherung durch Verweise in anderen Zeugnissen, die Fomulierung eines mitreißenden Vorworts, Drucklegung und Vermarktung. Aber die Hofdame hatte es dem Literaturwissenschaftler leicht gemacht: "Die Copien des Fräuleins zeichnen sich aus durch eine bei Damen seltene Sorgfalt im Bemühen, jede Vorlage mit all ihren Sonderbarkeiten und charakteristischen Nachlässigkeiten abzuspiegeln". (Diese Formulierung ist ein Schnappschuß in die Zeitlosigkeit männlicher Urteilsreflexe. Zur Ehrenrettung des launigen Erzählers: er war ein viertel Jahrhundert später als Berliner Literaturprofessor alleinverantwortlich für die Ausnahmegenehmigung des Studiums einer Frau: Gertrud Bäumers. Sie war eine Mitstreiterin Helene Langes und Aktivistin der Frauenbewegung. Und als eine der ersten Frauen der deutschen Universitätsgeschichte promovierte sie bei Schmidt mit einer Arbeit über 'Goethes Satyros'.) Nach seiner schnellen Publikation erwies sich der 'Urfaust' als germanistisches Beschäftigungsprogramm. Dietmar Pravida bilanzierte 2015: es "setzte rasch eine intensive Forschung ein, die sich in den wöchentlich oder monatlich publizierten Nummern von Rezensionsorganen, den vierteljährlich erscheinenden Heften der gerade erst etablierten literaturwissenschaftlichen Zeitschriften und in den jährlichen Forschungsberichten der Jahresberichte für neuere deutsche Literaturgeschichte äußerte und deren wissenschaftliche Kommunikation in Dichte, Reaktionsschnelligkeit und Dynamik in der Gegenwart nur in den naturwissenschaftlichen Disziplinen eine Entsprechung hat." (in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 2015, S.7) Bei alledem sorgte u.a. Friedrich Dürrenmatt bei seiner Züricher Inszenierung (1970) für eine eigenwillige Lesart. Sein „Faust“: noch ganz ohne Stimmen von oben und ohne rettende Engelschöre, doch mit viel kleinbürgerlichem Mief und intellektuellem Hochmut, dazu die Skrupellosigkeit und Bigotterie der sogenannten aufgeklärten Gesellschaft, die ein verzweifeltes junges Mädchen als Kindsmörderin verurteilte und aufs Schafott schickte. Die grausame Kerkerszene endet schroff und ohne versöhnliche Stimmen von oben. Über der armen Sünderin wird der Gerichtsstab gebrochen, mit einem harten „Krack, das Stäbchen bricht.“ Dann verschwindet Faust an der Seite Mephistos, die Kerkertür rasselt und der letzte Hilferuf Gretchens verhallt ungehört. Und diese Geschichte überzeugte Dürrenmatt mehr als der spätere Stoff bildungsbürgerlicher Leistungsleser: „Für mich ist der Urfaust das weitaus wichtigste dramatische Werk Goethes [...], so finde ich ihn weitaus kühner, psychologisch und in jeder Hinsicht faszinierender als Faust I und Faust II. Ich würde sagen, Faust I ist ein verdorbener Urfaust“. (Friedrich Dürrenmatt. Gespräche 1961-1990, Bd. I (Bd. I-IV, hgeg. von Heinz Ludwig Arnold). Zürich, 1996, S. 341)